Gedankensplitter
Wenn über Missbrauch gesprochen wird – und keiner zuhört
Gestern und heute war ich nach einer Woche Ferien wieder in der Genossenschaft arbeiten. Auch Paddy hat sich entschieden, trotz allem zu kommen – obwohl seine Schwester vor gerade mal einer Woche gestorben ist.
Paddy und ich beziehen beide eine IV-Rente wegen psychischer Erkrankung, insbesondere ÄVPS. Wir arbeiten an einem geschützten Arbeitsplatz. Seit ich vor drei Wochen im Gespräch versehentlich ein paar Details über den Missbrauch in unserer Familie habe durchsickern lassen, ist das Thema zwischen uns unausweichlich geworden. Paddy hatte sein ganzes Leben lang Fragen und Ahnungen – aber er wusste nie, wie tief das alles ging oder wer genau betroffen war.
Was ihn jetzt am meisten belastet: Dass seine Schwester Lea ihm sein ganzes Leben lang nicht die Wahrheit gesagt hat. Und dann stirbt sie – weniger als eine Woche nachdem sein ganzes Bild von der Familie zusammengebrochen ist.
Was macht das mit einem Menschen?
Ich wusste eine Zeit lang nicht, ob er suizidal ist – oder ob er im Gegenteil kurz davor war, Selbstjustiz an einem der noch lebenden Täter zu üben. Es war eine akute Krise.
Wenn das Thema zu gross wird, machen alle dicht
Ich fand es deshalb wichtig, dass wir unsere Ansprechpersonen in der Genossenschaft möglichst offen informieren. Dass Paddys 51-jährige Schwester unter schrecklichen Umständen an einem Hirntumor gestorben ist, wurde von den Fachpersonen professionell und menschlich aufgenommen. Aber dann passierte etwas, das ich inzwischen leider allzu gut kenne: Sobald das Wort sexueller Missbrauch fällt, ist niemand mehr wirklich da.
Und ja – ich habe in den letzten Tagen bewusst ein bisschen mehr darüber gesprochen. Nicht um jemanden zu schocken, sondern um sicherzugehen, dass ich mir das nicht einbilde.
Ich bilde mir nichts ein.
Sobald es um Missbrauch geht, wird es still.
Plötzlich haben alle Termine. Müssen weg. Das Thema wird gewechselt.
Und ich werde wütend.
Alle wollen über Missbrauch reden – aber bitte nicht im echten Leben?
Leben wir nicht in einer Zeit, in der man über solche Dinge reden darf? In der es sogar wichtig ist, darüber zu sprechen?
Wir schauen Dokus auf Netflix. Lesen Erfahrungsberichte von Überlebenden. Reagieren empört auf jeden neuen Missbrauchsskandal in der Kirche, in der Schule, im Sportverein.
Aber wenn das Thema im echten Leben zur Sprache kommt, benehmen sich alle wie Idioten.
Ich glaube, es geht um Unsicherheit.
Viele wissen einfach nicht, wie man reagieren soll.
Weisst du was?
Ich wusste auch nicht, wie ich damit umgehen soll –
als ich ein Kind war.
Und trotzdem musste ich es durchleben.
Und du willst nicht mal zuhören?
Psychologischer Hintergrund: Warum reagieren Menschen so?
Falls du dich fragst, ob das nur mir so geht: Nein. Leider ist das weit verbreitet. Die Reaktionen, die sexueller Missbrauch auslöst, sind gut erforscht. Hier ein paar psychologische Erklärungsansätze:
1. Weltbildschutz: „Sowas darf nicht passieren“
Viele Menschen glauben unbewusst an eine „gerechte Welt“ – also dass gute Dinge guten Menschen passieren und schlechte Dinge nur denen, die irgendwie „selbst schuld“ sind. Missbrauch widerspricht diesem Weltbild. Die einfachste Art, damit umzugehen? Wegschauen.
2. Emotionale Überforderung
Missbrauch löst starke Gefühle aus: Mitgefühl, Wut, Ekel, Ohnmacht. Wenn man nicht gelernt hat, solche Emotionen auszuhalten, macht man innerlich zu. Das nennt sich emotionale Distanzierung – ein verbreiteter Abwehrmechanismus.
3. Keine Erfahrung im Umgang mit Betroffenen
Viele Menschen haben nie gelernt, wie man mit einer betroffenen Person spricht. In den Medien ist Missbrauch meist abstrakt und weit weg – über Fremde in Artikeln oder Serien. Wenn plötzlich jemand im eigenen Umfeld betroffen ist, fehlen die Worte. Und oft auch der Mut.
4. Verdrängte eigene Erfahrungen
Erschreckend viele Menschen haben selbst Gewalt oder Missbrauch erlebt – ohne es je verarbeitet zu haben. Wenn jemand anderes darüber spricht, kann das alte Erinnerungen und Gefühle auslösen. Um das zu vermeiden, schweigt man lieber.
Was tun, wenn eine Kollegin über Missbrauch spricht?
Viele wissen einfach nicht, wie sie reagieren sollen. Hier ein paar einfache, aber wichtige Tipps:
1. Einfach zuhören – ohne zu bewerten
Man muss nichts sagen. Nur da sein. Zuhören. Nicht weglaufen. Sätze wie „Es tut mir so leid“ oder „Danke, dass du mir das erzählst“ reichen völlig aus.
2. Fragen, ob Hilfe gewünscht ist
Manche wollen reden, andere nicht. Beides ist okay. Frag ruhig: „Willst du einfach, dass ich zuhöre? Oder kann ich irgendetwas für dich tun?“
3. Vermeide Floskeln und Verharmlosung
Sätze wie „Das ist doch lange her“ oder „Aber du bist doch so stark geworden“ meinen es gut, sind aber verletzend. Ebenso wie: „Alles hat einen Grund“ oder „Das hat dich geformt“. Bitte nicht.
4. Mach nicht dich selbst zum Thema
Sag nicht „Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll“ oder „Das ist schwer für mich“. Es geht gerade nicht um dich. Sag lieber nichts – und bleib einfach da.
5. Biete längerfristige Unterstützung an
Wenn du der Person nahestehst, sag ruhig: „Wenn du irgendwann wieder drüber reden willst – ich bin da.“ Das macht einen Unterschied.
Fazit: Keine Angst vor schwierigen Gesprächen
Missbrauch ist ein schwieriges Thema. Aber auch ein wichtiges.
Und ja – es ist unangenehm. Es macht sprachlos. Aber genau deshalb ist es so wichtig, dass wir lernen, hinzuschauen.
Wir Betroffenen mussten es erleben.
Du kannst wenigstens zuhören.
Pingback: Diagnosen – Zwischen Wahrheit, Stigma und blinden Flecken – Alien whispers
Pingback: Diagnosen – Zwischen Wahrheit, Stigma und blinden Flecken – Shabaka