Hier und jetzt
24 Tage bis zum Absprung
Noch 24 Tage. Dann steige ich in ein Flugzeug, das mich rausfliegt – raus aus einem Land, das mich nie wirklich wollte. Hinter mir: eine Wohnung, die sich in eine Lagerhalle verwandelt hat. Halbgepackte Koffer, ausrangierte Möbel, Überreste meines „Lebens“. Fast alles losgeworden. Verkauft (Lumpenpreise). Verschenkt (Kraftakt). Weggeworfen (mit Zähneknirschen).
Was bleibt, passt in 23 kg Aufgabegepäck, 5 kg Handgepäck und eine Hundebox. Und was nicht mitkommt, lasse ich zurück – inklusive Zweifel.
Ich ziehe aus, um mein Leben zurückzuholen
Denn ich will weg. Ohne Wehmut. Ohne Sentimentalitäten. Ich habe keine Illusionen mehr über mein Herkunftsland. Selbst die nettesten Schweizer:innen begegnen allem, was sie stört, mit einem stillen, höflichen Stirnrunzeln – gepaart mit struktureller Verachtung. Sie hassen nicht laut. Sie disqualifizieren mit Artikeln: die Albaner. die Türken. die Schuldenmacher. die Drögeler. Alles Einzelfälle, klar – solange man nicht genau hinhört.
Galgenhumor hilft beim Packen
Was mich hier hält? Nichts mehr. Was mich zieht? Die Hoffnung auf echte Menschlichkeit – auch wenn sie chaotisch, schmutzig und instabil ist.
Ich bin nicht naiv. Ich weiss, worauf ich mich einlasse. Ich ziehe in ein Land, in dem nicht alles durchreguliert ist, sondern vieles einfach passiert. Und zwar wörtlich. Manchmal brennt ein Haus, weil niemand auf Sicherheitsstandards achtet. Manchmal entgleist eine Achterbahn. Und manchmal wird man verhaftet, weil man einem verdurstenden Flüchtling eine Wasserflasche reicht.
Aber es hat auch etwas Befreiendes, wenn eben nicht alles geregelt ist. Wenn nicht hinter jeder Ecke ein System steht, das dich kontrolliert, bewertet, katalogisiert – und dann höflich, aber bestimmt aussondert, wenn du nicht ins Bild passt.
Demokratie light – mit menschlicher Wärme
In der Schweiz wäre ich überrascht, wenn morgen jemand das Parlament stürmt. In Tunesien… sagen wir mal, es wäre interessant, aber nicht völlig unerwartet. Es ist ein Land im Wandel – instabil, widersprüchlich, lebendig.
Und ja, das ist angsteinflössend. Aber nicht so sehr wie der kalte Perfektionismus meines Herkunftslandes. Die Schweiz hat vieles, worauf man stolz sein kann: Stabilität, Sicherheit, Rechtstaatlichkeit. Aber vielleicht ist es genau diese sterile Effizienz, die bei vielen zu dieser chronischen Unfähigkeit führt, Mitgefühl über Vorurteile zu stellen.
Ich habe keine Antworten auf diese Widersprüche. Nur eine Entscheidung: Ich gehe.
Nicht, weil ich vor etwas davonlaufe – sondern weil ich etwas suche, das ich hier nie gefunden habe.