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2003: Ein Jahr der Dunkelheit

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Auf dem Papier sah mein Leben damals fast perfekt aus:
Ich hatte eine erfolgreiche Karriere als ORACLE-Entwicklerin bei der Credit Suisse. Einen sicheren, gut bezahlten Job. Einen introvertierten, liebevollen , Ralf – rational, zuverlässig. Eine schöne 5-Zimmer-Wohnung auf dem Land bei Bern. Ich war aus einem Arbeiterhaushalt in die Mittelschicht aufgestiegen.
Es hätte alles gut sein sollen. Aber im Schatten lauerte etwas anderes: . .

Aber es war nicht gut. Ich fiel langsam auseinander.

Der Anfang vom Ende

Zuerst war es wie langsames Ersticken. Je tiefer ich ins Bankensystem eintauchte, desto mehr widerte es mich an. Ich programmierte Reports über vergessene Konten – Geld, das unberührt Zinsen sammelte und Reichtum für ein paar wenige schuf, während der Rest im Stillen den Laden am Laufen hielt. Je besser ich verstand, wie das System funktionierte, desto mehr hasste ich es.

Irgendwann fragte ich mich: Hat mich der Job depressiv gemacht, oder war ich schon depressiv, bevor ich den Job hasste? Ich weiss es bis heute nicht.

Der Auslöser – Michele tritt in mein Leben

In jenem Sommer lernte ich Michele auf Battle.net kennen, beim Diablo-2-Zocken. Wir verstanden uns – ein gemeinsamer Hass auf , auf den , auf das System an sich.
Aber Michele war mehr als ein rebellischer Geist. Er war voller Verschwörungstheorien und esoterischem Quatsch. Und es schwang auch Rassismus mit, immer irgendwie unterschwellig.

Seine Obsession mit seiner Ex war verstörend. Mal war sie seine Göttin, seine Königin, die ihn grundlos verlassen hatte. Dann wieder eine „dreckige Hure“.
Und dann, eines Abends, sagte er ganz nebenbei:
„Ja, ich hab sie halt ein paar Mal geschlagen. Aber sie hat mich provoziert. Und okay – ich hab auch ihre Katzen umgebracht. Aber sie hat mich verlassen! Einfach so. Wie grausam kann ein Mensch sein?!“

Ich hätte ihn sofort blockieren sollen.
Hab ich nicht.
Stattdessen hab ich ihn eingeladen. In mein Leben. In meine Wohnung.

Von da an geriet alles ausser .

Leben in Angst – wenn dein Zuhause zum Kriegsgebiet wird

Mit Micheles Einzug wurde unsere Wohnung zur Frontlinie. Er explodierte aus dem Nichts. Ralf und ich, beide konfliktscheu, liefen wie auf Eierschalen durch die Wohnung. In der Hoffnung, seinen Zorn nicht zu wecken. Aber es war egal, was wir taten.

Ralf steckte selbst tief in der Krise – sein Vater war schwer krank. Krebs im Endstadium.
Ralf trank. Jeden Abend. So betäubte er sich.
Michele wurde damit zu meinem Problem.

Dann kam der erste körperliche Angriff: ein Tritt in die Rippen, mitten in der Nacht. Brutal. Ohne Vorwarnung. Ich wachte keuchend auf, ohne zu wissen, was ich „falsch“ gemacht hatte.
Ab da konnte ich nicht mehr schlafen.

Ich brach bei der zusammen, verkroch mich auf dem Klo, nur um kurz die Augen zu schliessen.
Schlafmangel, Angst, Daueranspannung – ich funktionierte nicht mehr.
Ich verletzte mich selbst, um wach zu bleiben. Oder vielleicht auch, um überhaupt noch etwas zu fühlen.

Michele bombardierte mich mit Nachrichten, wenn ich im Büro war.
Er war allein. In meiner Wohnung.
Mit meinen zwei Katzen.

Dieses nagende Gefühl – permanente Angst – war mein ständiger Begleiter.
Es war längst keine mehr, ob er mich schlagen würde.
Nur noch: Wann.

Zusammenbruch

Dann verliess Ralf die Wohnung. Und ich kapitulierte.

Ich ging nicht mehr zur Arbeit. Ich rief auch nicht an.
Ich lag einfach nur auf dem Sofa. Ungewaschen. Nicht gekämmt. Ich wartete darauf, dass ich verschwinde.
Michele räumte in der Zwischenzeit meine Kreditkarten leer.
Mir war alles egal.

Dann kam ein Brief.
Credit Suisse lud mich zur Pflichtuntersuchung bei ihrer Vertrauensärztin.
Ich schleppte mich irgendwie hin.

Sie war anders, als ich erwartet hatte. Kein kalter Konzernmensch. Sie war freundlich.
Ein Blick auf mein Gesicht – und sie wusste Bescheid.
Innerhalb weniger Tage organisierte sie einen Termin beim Psychiater.

: Totalzusammenbruch.
Ich wurde krankgeschrieben.

Letzte Eskalation – und das Ultimatum

Zuhause ging es einfach weiter. Michele raste weiter aus – unberechenbar.
Mal war ich seine Retterin.
Dann wieder „eine fette, gierige Schlampe“, weil ich ihn bat, seinen eigenen Dreck aufzuräumen.

Dann kam der finale Angriff.
Er schlug mich. Mit voller Wucht.
Ich konnte die blauen Flecken nicht mehr verstecken – nicht mal mit einem Schal.

Meine Psychiaterin war klar:
„Ich kann Sie so nicht mehr behandeln. Sie müssen in die . Wenn Sie hierbleiben, bringt er Sie um.“

Sie hatte recht.

Aber ich hatte Angst. Zu viel Angst, um wirklich zu gehen.
Michele war gegen die Klinik.
Ich wusste, wozu er fähig war.

Also suchte ich einen Kompromiss: Tagesklinik.
Nicht ideal. Aber das Beste, was ich mir zutraute.

Das Leben in Trümmern – aber ich lebe noch

Ende 2003 war alles weg.
Mein Job.
Meine finanzielle Sicherheit.
Mein Selbstwertgefühl.

Schutt und Asche.

Aber ich habe überlebt.

Und vielleicht ist allein das schon ein Sieg.

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