Dramatis Personae
Lea: „Ich hätte nie gedacht, dass du Gefühle hast.“
Ich beginne meine Liste der Dramatis Personae mit Lea – weil sie letzte Woche gestorben ist. Und weil sie mich seither in Gedanken verfolgt.
Weitere Figuren folgen irgendwann. Ohne Reihenfolge, ohne Plan. Nur Menschen, die mein Leben geprägt oder verbogen haben – einer nach der anderen.
Grunddaten
Geboren – Gestorben: Dezember 1973 – Februar 2025 († 51 Jahre)
Todesursache: Hirntumor.
Wenn die Seele durch den Körper spricht, aber der Kopf nicht zuhört, endet es vielleicht mit einem Hirntumor.
Ich weiss, das ist brutal vereinfacht. Aber die Psychosomatik lässt mich nicht los – vor allem nicht bei Lea.
Wohnorte:
Ihr ganzes Leben verbrachte sie in und um Biel-Bienne – eine zweisprachige Industriestadt im Schweizer Mittelland. Viel Uhrenindustrie, viel Beton, ein bisschen Charme, ein bisschen Dreck.
Beruf:
Fachangestellte Betreuung in der Altersarbeit (zweijährige Lehre)
Beziehung zur Arbeit:
Helfersyndrom deluxe. Wollte eigentlich Krankenschwester werden – aber die Noten (und vermutlich auch das Interesse) reichten nicht.
Ich hatte immer das Gefühl: Sie wollte nicht den Job, sondern das romantische Bild davon.
Die hingebungsvolle Pflegerin, die einem gut aussehenden, sanften Feuerwehrmann das Leben rettet – und sich dabei unsterblich verliebt. Happy End. (Cue Helene-Fischer-Ballade.)
Realität?
Viel harte Arbeit und Männer, die nur noch sabbern – 90 Jahre alt, dement, inkontinent.
Familie & Verwandtschaftsverhältnisse
Mutter: Lory (Schwester meiner Mutter)
Vater: Hugo (Bruder meines Vaters)
Bruder: Paddy – drei Jahre jünger als Lea
Partner: Tom – ihr erster und einziger Partner, den sie erst relativ spät kennenlernte
Lea war die eiserne Jungfrau der Familie.
Ich war die Schlampe – sie die Reine.
Nicht aus Überzeugung. Sie wollte schon, aber es ergab sich nie.
Zwei, drei intime Begegnungen vor Tom – aber nie eine Beziehung.
Kinder: Keine. (Zum Glück.)
Sie wollte immer Mutter werden, schon als Teenie. Das Universum war gnädig.
Persönlichkeit & Typ
Lieb. Jähzornig. Stur.
Ihr Gewicht definierte ihr Selbstbild. Seit der Kindheit adipös.
Sie war immer beschäftigt mit Diäten, Kalorien, Vergleichen.
Sie wollte gefallen – um jeden Preis.
Starke Meinungen, Streit, Konfrontation? Fremdwörter.
Harmonie um jeden Preis – auch wenn sie sich selbst dafür komplett auslöschte.
Mainstream pur.
Mit 15 kleidete sie sich wie Mitte 40. Hörte Schlager und Volksmusik.
Wahrscheinlich hat sie in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gelesen als den BLICK.
Keine echten Interessen. Keine Neugier. Keine Leidenschaft.
Keine Reibung.
Aber wehe, sie explodierte – dann richtig.
Psychisches Profil (Pschikologie)
Oder: Warum sie so verkorkst war
Klassische Opferpersönlichkeit.
Sie passte sich an. Liess alles geschehen. Sagte nie nein.
Tolerierte das Unerträgliche.
Extreme Konfliktvermeidung.
Sie hätte lieber geschwiegen, als eine unbequeme Wahrheit anzuerkennen – selbst wenn jemand anderes darunter litt.
Feigheit als Überlebensstrategie.
Sie sah, dass Dinge falsch liefen. Und schaute weg.
Sie wusste, dass etwas nicht stimmte – und tat so, als wär alles okay.
Lebenslange Selbsttäuschung.
Egal wie schlimm es war – sie spielte Harmonie.
Die Welt konnte brennen, und Lea hätte Atemlos durch die Nacht drübergelegt.
Vaterkomplexe en masse.
Verliebt in ihren Onkel Ronald –
obwohl (oder gerade weil?) er sie sexuell belästigte.
Und warum?
Na klar: die Eltern.
Hugo: Der Familien-Tyrann schlechthin.
Ein – sorry – Vollwichser.
Dumm wie Brot, aber mit starken Meinungen.
Immer gegen Ausländer.
Sexbesessen. Grenzenlos. Vor allem betrunken.
Laut. Impulsiv. Einschüchternd. Ein Diktator ohne Reich.
Lory: Die, die aufräumen musste.
Sie hat alles entschuldigt, was Hugo angerichtet hat.
Sie war Schadensbegrenzung in Menschengestalt.
Das Ergebnis?
Lea hat das System übernommen.
Sie hat es nicht bekämpft – sie hat sich einen neuen Hugo gesucht: Tom.
Ihr selbstzerstörerisches Verhalten kam nicht aus Lust –
sondern weil sie keine andere Beziehungskultur kannte.
Unsere Beziehung
Als Kind habe ich sie vergöttert.
Ich wollte sein wie sie.
Mit ihr durch Wälder rennen, Superheldin spielen – das war das Grösste für mich.
Aber ich hatte immer das Gefühl: Sie war nie so begeistert von mir wie ich von ihr.
Sie hing lieber bei den Erwachsenen rum.
Als Teenager wurde der Unterschied klar:
Ich rebellierte, las Bücher, kämpfte für Gerechtigkeit.
Sie wurde alt. Innerlich. Gab sich hin. Hörte Schlager, war brav, still, angepasst.
Ihr Rückzug war endgültig.
Je mehr ich sie brauchte, desto weiter zog sie sich zurück.
Schlüsselmomente – die guten, die bitteren, die absurden
Was schön war:
Unsere Heldinnen-Abenteuer im Wald.
Ich liebte es, mit ihr in Fantasiewelten abzutauchen.
Unsere kleinen Reisen als Teenager – nur wir zwei. Da war sie nahbar. Da mochte ich sie.
Was mich bis heute wütend macht:
Ihr Schweigen, als ich sie am meisten brauchte.
Ihr Schweigen über den Missbrauch.
Fazit
Wenn ich sie in einem Satz beschreiben müsste:
„Ein Mensch, der alles geschluckt hat – bis es ihn von innen aufgefressen hat.“
Was ich von ihr gelernt habe?
Dass Schweigen genauso grausam sein kann wie Worte.
Was ich ihr heute sagen würde, wenn ich könnte?
„Ich wünschte, du hättest den Mut gefunden, hinzusehen.“