Kellerbox
Nice to the Abyss – Der Anfang mit Clay
Ich kam nach Nizza wie alle Tourist*innen: geblendet vom Glamour der Promenade des Anglais, dem Charme der Altstadt, der Mittelmeersonne, die sich auf blitzsauberen Fassaden spiegelte. Überall Gucci-Taschen, stylishe Menschen auf Terrassen mit Espresso in der Hand, der Duft von Meersalz vermischt mit teurem Parfüm.
Die Wohnung meiner Gastmutter lag in einem der vorzeigbaren Viertel, ebenso wie die Sprachschule.
Das war das Nizza, das man in Reiseführern sieht. Das Nizza, in dem alles wie ein schöner Traum wirkt.
Und dann war da Clay.
Der erste Kontakt
Ich war gerade auf dem Weg nach Hause von der Sprachschule, in Gedanken versunken, als mich jemand ansprach:
„Excuse me, do you have a lighter?“
Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.
„Wait, you’re not from here, are you?“
Ich blieb stehen.
Fehler Nummer eins.
Das Gespräch danach war belanglos. Smalltalk. Nichts, woran ich mich wirklich erinnern könnte.
Aber als ich ging, hatte ich seine Nummer in der Tasche. Und – noch viel wichtiger – er hatte meine.
Von der Promenade nach L’Ariane
Clay lebte in einem ganz anderen Nizza als dem, das ich kennengelernt hatte.
Und er wollte mir genau diese Seite zeigen.
Nur ein paar Busstationen entfernt von der aufpolierten Postkarten-Variante der Stadt lag L’Ariane – und das war eine ganz andere Welt.
Kein Tourist*innenziel.
Ein graues Labyrinth aus Hochhäusern, kaputten Strassen und einer spürbaren Resignation, die in den Wänden hing.
Ein Ort, den kaum jemand freiwillig betrat, wenn er nicht dort wohnte.
Eine der Familien, die Clay mir vorstellte, lebte im 14. Stock eines dieser Blocks. Der Lift war defekt.
Meine erste Aufgabe nach der Ankunft?
Clays 14-jährige Cousine halfen, Einkäufe und drei kleine Kinder die vierzehn Stockwerke hochzuschleppen.
Ich erinnere mich an den Gedanken:
Wie kann sowas im reichen Europa möglich sein?
Und trotzdem – die Menschen in L’Ariane waren das komplette Gegenteil ihres Umfelds.
Die Häuser waren abgewirtschaftet, ja.
Aber drinnen: Leben. Lachen. Wärme.
Kinder rannten durch enge Flure, Stimmen hallten durch offene Fenster.
Es war dreckig, laut, lebendig.
Und irgendwie menschlich.
Ich hatte meine sorgfältig kuratierte Sprachreise verlassen –
und war in einer Welt gelandet, mit der ich nie gerechnet hatte.
Clays Schatten: Stalking, das nicht mehr aufhörte
Damals begriff ich nicht, was ich da eigentlich zuliess.
Clay schien harmlos. Eine schräge Begegnung. Eine Geschichte für später.
Ein unerwarteter Schlenker auf meinem Weg zur Französisch-Perfektion.
Dann verliess ich Nizza.
Und dachte, das war’s.
War’s aber nicht.
Was folgte, war eine lange, zermürbende Zeit –
Stalking.
Ich habe das Wort bis heute nie öffentlich benutzt. Aber genau das war es.
Stalking ist definiert als ein Muster aus wiederholter, unerwünschter Kontaktaufnahme, das Angst oder Bedrohung auslöst.
Clay erfüllte jedes einzelne Kriterium.
Zuerst waren es nur Anrufe. Viele Anrufe.
Sein Tonfall schwankte unberechenbar – von freundlich über fordernd bis aggressiv.
Als ich ihm klarmachte, dass ich ihn nicht heiraten würde, sagte er:
„Dann erzähl ich deinen Eltern alles.“
Er liess nicht locker.
Fand Wege, mich zu erreichen.
Druck auszuüben.
Zu betteln.
Zu drohen.
Mich zurückzuziehen in seinen Bannkreis.
Es war erstickend.
Ich war weit weg – tausende Kilometer.
Aber es fühlte sich an, als wäre er direkt hinter mir.
Immer.
Und das ging über Jahre.