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Nicht einmal als Opfer vorgesehen

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Wie mich die Kindermorde der 1980er-Jahre früh lehrten, wer zählt – und wer nicht

Ich bin ein Kind der 1980er-Jahre. Die Zeit der Schweizer . So nannte ich das Jahrzehnt schon früh in meinem Kopf.

Noch bevor ich in den Kindergarten kam, wusste ich: Es gibt hübsche, bewunderte, wertvolle Mädchen – und es gibt den Rest. Die Hübschen waren schlank, hatten lange Haare und trugen Kleider, die teuer aussahen. Ihre Eltern waren Anwälte oder Architekten, sie wohnten in Einfamilienhäusern mit Garten und – wenn’s hochkam – sogar mit Pool.

Dann gab es die Mittelklasse-Mädchen. Auch hübsch, aber irgendwo fehlte ein Detail: Die Eltern waren „nur“ Lehrer oder Landwirte, oder sie hatten eine Zahnspange. Und dann war da meine Kategorie: Die Unbeliebten. Die mit den praktischen Kleidern. Die mit dem Sozialwohnungs-Teint. Die, die nicht in Pools schwammen, sondern in Mehrfamilienhäusern verschwanden.

Mein Vater war ungelernter Fabrikarbeiter. Ein Stigma in der , das sich durch jede Pore meiner zog. Meine Mutter war körperbehindert. Ich war dick, oft ungewaschen, meistens ungekämmt – und es war mir egal. Oder: Ich tat so. Denn tief in mir war längst klar, dass ich nie dazugehören würde. Nicht zu den Hübschen, nicht zu den Beliebten.

Ich konnte mit fünf lesen. Und ich las. Alles. Vor allem Schlagzeilen. Ich stand vor dem Dorfkiosk und sog die Zeitungscover auf wie andere Kinder Glacé. Wenn in der Tagesschau von vermissten oder ermordeten Kindern die Rede war, blieb ich wie gebannt vor dem Bildschirm sitzen. Aktenzeichen XY sah ich erst heimlich – bis meine Mutter kapitulierte und mir einen Platz auf dem Sofa freiräumte.

Und dann fiel mir etwas auf.
All diese toten Mädchen. All diese vermissten Kinder. Sie waren hübsch. Blond. Zart. Niedlich. „Normschön“, wie man heute sagen würde. Und mir dämmerte: Nicht einmal für einen Kindermörder war ich gut genug. Ich taugte nicht mal als .

Das war… beruhigend. Und gleichzeitig demütigend. Sogar der grausamste Mensch der Welt hätte mich links liegen lassen.

Also zog ich los. Ich, sechs Jahre alt, durchkämmte Wälder, kroch durch Gebüsche, stromerte durch verbotene Gebiete. Ich legte es darauf an. Unter anderem rund um die Haftanstalt Witzwil, ganz in der Nähe des Campingplatzes, wo meine ihre Wochenenden verbrachte. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, in Gefahr zu sein. Ich wollte herausfordern, provozieren. Und vielleicht, ganz tief drin, wollte ich auch verschwinden. Damit endlich jemand merkt, dass es mich gab.

Die Vorstellung, entführt oder ermordet zu werden, erschien mir damals nicht einmal schlimm. Sie war eine Art Gerechtigkeit. Eine Form von Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen, das niemand vermissen würde, suchte einen Beweis dafür, dass es überhaupt existierte.

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