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Meine Kaiserschnittgeburt 1977 in der Schweiz

Mein Start ins Leben war alles andere als gewöhnlich. Als ich 1977 in einem Schweizer Krankenhaus geboren wurde, war die Atmosphäre weit entfernt von den warmen, familienfreundlichen Kreisssälen, die wir heute kennen. Stattdessen war es ein Ort der Effizienz und Sterilität, an dem es darum ging, Leben zu retten, nicht sie zu feiern. Die Kargheit der Umgebung stand in krassem Gegensatz zu dem, was man in einem so entscheidenden Moment erwarten würde. Krankenhäuser werden oft als Orte der Fürsorge dargestellt, aber mein Krankenhaus glich eher einem Fliessband in einer Fabrik, wo das Hauptziel darin bestand, das Überleben zu sichern.
Kaiserschnitte in den 1970er Jahren
Meine Mutter, eine beeindruckende Frau, die trotz ihrer Polio-Erkrankung stark und entschlossen blieb, hatte eine natürliche Geburt, bevor sie per Kaiserschnitt entbunden wurde. Damals war es üblich, Mütter für diesen Eingriff unter Vollnarkose zu bringen. Während sie bewusstlos war, wurde ich – sechs Wochen zu früh – aus ihrem Bauch gezogen. Ein plötzlicher Schnitt, ein helles Licht und unbekannte Hände rissen mich aus meiner warmen, sicheren Welt. Ich kann mir nur vorstellen, welche Gefühlsmischung sie empfand, als sie zu sich kam und sich fragte, wo ich war. In diesen Momenten muss sie von Angst und Furcht überwältigt gewesen sein, noch verstärkt durch die Realität ihres Gesundheitszustands.
Die Auswirkungen einer frühen Trennung
Ich kann mir nur vorstellen, wie verwirrend das gewesen sein muss. Bis zu diesem Moment war die Stimme meiner Mutter meine Konstante, mein Anker gewesen. Doch plötzlich war sie weg. Ich war allein, umgeben von kaltem Metall und Fremden, die weder vertraut noch tröstlich waren. Dieser Gedanke verfolgt mich: Wie prägt eine solche Erfahrung einen Menschen? Das Fehlen vertrauter Geräusche und die völlige Abwesenheit von Wärme in diesen kritischen ersten Momenten des Lebens können bleibende Spuren in der Psyche hinterlassen. Studien legen nahe, dass solche frühen Erfahrungen der Isolation tatsächlich die emotionale Entwicklung und Bindungsstile im Laufe des Lebens beeinflussen können.
Leben im Inkubator
Der nächste Schritt war der Brutkasten. Er war mein Lebensretter, das weiss ich. Aber für mich als Neugeborenes bedeutete er vor allem eines: Isolation. Keine sanften Berührungen, keine vertrauten Stimmen. Nur das stetige Summen der Maschinen und die gelegentliche Anwesenheit des medizinischen Personals. Mein Vater durfte mich sehen, aber nur kurz. In seinen Augen, so wurde mir gesagt, lag bedingungslose Liebe. Aber diese Momente waren selten und flüchtig – Männer waren damals auf Entbindungsstationen nicht gerade willkommen. Diese Trennung von meinen Eltern während einer so kritischen Entwicklungsphase trug wahrscheinlich zu meinem Gefühl der Trennung bei. Der Brutkasten war zwar notwendig, symbolisierte aber die emotionale Distanz, mit der ich später im Leben zu kämpfen hatte.
Verlangen nach Verbindung
So verbrachte ich die ersten Tage meines Lebens in einer Welt ohne Nähe. Und doch wurde mir klar, wie sehr ich mich nach dieser Nähe sehnte, als ich endlich nach Hause kam. Ich hatte Koliken. Stundenlanges Weinen brachte meine Eltern oft an ihre Grenzen. Meine Mutter fand schliesslich einen Weg, mich zu beruhigen: Sie setzte sich und legte mich auf ihre linke Schulter, sodass ich ihre Wärme spüren konnte. Diese einfache, aber kraftvolle Geste war mein einziger Trost. Sie erinnert mich an das berühmte Experiment mit Affen, die die Wahl zwischen einer Drahtmutter mit Futter und einer weichen, tröstenden Mutter ohne Futter hatten. Die Affen wählten fast immer die weiche Mutter – denn wir alle brauchen mehr als nur das blosse Überleben. Dieses Bedürfnis nach Wärme und Zuneigung spricht für eine grundlegende Wahrheit über die menschliche Natur: Verbundenheit ist für unser Überleben genauso wichtig wie Nahrung und Obdach.
Die Entwicklung einer Persönlichkeit
Wenn ich auf diese frühen Tage zurückblicke, wird mir klar, wie sehr sie mich geprägt haben. Das Gefühl der Isolation, das ich in meinen ersten Augenblicken empfand, war möglicherweise der erste Baustein meiner ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit. Von Anfang an fühlte sich die Welt wie ein kalter und distanzierter Ort an. Kein Wunder, dass ich lernte, mich zurückzuziehen, vorsichtig zu sein und immer zuerst nach Sicherheit zu suchen. Diese Tendenz, mich in Zeiten von Stress oder Unsicherheit in mich selbst zurückzuziehen, war ein zweischneidiges Schwert; während es mir oft Sicherheit bot, hinderte es mich auch daran, tiefere Verbindungen zu anderen aufzubauen.
Resilienz und die Suche nach Verbindung
Trotz alledem – oder vielleicht gerade deswegen – war ich von Anfang an eine Kämpferin. Ich wollte leben und diese Welt erkunden, auch wenn sie mich mit all ihrer Härte begrüsste. Mein Start ins Leben war hart, aber er hat mir auch gezeigt, wie stark das Verlangen nach Verbundenheit und Sicherheit in uns allen steckt. Und vielleicht war das der Funke, der mein späteres Leben – mit all seinen Herausforderungen – geprägt hat. Die Akzeptanz meiner Verletzlichkeit wurde zu einem zentralen Thema auf meiner Reise. Als ich lernte, auf andere zuzugehen und mich mit ihnen zu verbinden, entdeckte ich die tiefe Kraft, die das Teilen meiner Erfahrungen mit sich bringt. Diese Suche nach Verbundenheit hat nicht nur meine Beziehungen geprägt, sondern auch mein persönliches Wachstum und meine Selbstakzeptanz gefördert.
Letztendlich glaube ich, dass unsere Anfänge, ob von Härte oder freudigem Feiern geprägt, unsere Geschichten zutiefst prägen. Indem ich meine Geburtsgeschichte mit euch teile, kann ich diese frühen Momente wiederentdecken und sie zu einem Gewebe der Widerstandskraft verweben. Jeder Faden erzählt eine Geschichte von Kampf, Wachstum und dem unstillbaren Durst nach Verbundenheit. Auf diese Weise feiere ich meine Reise nicht nur als eine Geschichte des Überlebens, sondern als ein beständiges Zeugnis der Fähigkeit des menschlichen Geistes, nach Liebe und Zugehörigkeit zu suchen.
Die Heilungsreise
Diese Reise des Verstehens hat mich auch dazu gebracht, verschiedene therapeutische Methoden zu erkunden, die die Bedeutung früher Erfahrungen betonen. Therapien, die sich auf Bindung und Beziehungsdynamik konzentrieren, haben mir Werkzeuge an die Hand gegeben, um die Wunden meiner Vergangenheit zu behandeln. Jedes Buch enthüllt Schichten meiner emotionalen Landschaft und hilft mir, meine Beziehung zu mir selbst und anderen neu zu definieren. Durch diesen Prozess bin ich zu der Vorstellung gekommen, dass Heilung kein linearer Weg ist, sondern vielmehr eine gewundene Strasse voller Erkenntnisse und Wachstum.
Meine Geschichte teilen
Wenn ich über die Auswirkungen meiner Geburtsgeschichte nachdenke, wird mir klar, dass sie mir eine einzigartige Perspektive auf das Leben und Beziehungen gegeben hat. Ich fühle mich oft zu Geschichten über Resilienz hingezogen, sei es in der Literatur oder im Leben der Menschen um mich herum. Es ist eine angeborene Faszination dafür, wie andere ihre Kämpfe meistern, und es zwingt mich, meine eigene Geschichte zu teilen. In einer Welt, die uns oft dazu drängt, stark zu sein, glaube ich, dass Verletzlichkeit eine enorme Kraft hat. Indem ich meine Geschichte teile, hoffe ich, mit anderen in Kontakt zu treten, die sich in ihren Erfahrungen vielleicht isoliert fühlen, und sie daran zu erinnern, dass sie nicht allein sind.
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Nicht einmal als Opfer vorgesehen

Wie mich die Kindermorde der 1980er-Jahre früh lehrten, wer zählt – und wer nicht
Ich bin ein Kind der 1980er-Jahre. Die Zeit der Schweizer Kindermörder. So nannte ich das Jahrzehnt schon früh in meinem Kopf.
Noch bevor ich in den Kindergarten kam, wusste ich: Es gibt hübsche, bewunderte, wertvolle Mädchen – und es gibt den Rest. Die Hübschen waren schlank, hatten lange Haare und trugen Kleider, die teuer aussahen. Ihre Eltern waren Anwälte oder Architekten, sie wohnten in Einfamilienhäusern mit Garten und – wenn’s hochkam – sogar mit Pool.
Dann gab es die Mittelklasse-Mädchen. Auch hübsch, aber irgendwo fehlte ein Detail: Die Eltern waren „nur“ Lehrer oder Landwirte, oder sie hatten eine Zahnspange. Und dann war da meine Kategorie: Die Unbeliebten. Die mit den praktischen Kleidern. Die mit dem Sozialwohnungs-Teint. Die, die nicht in Pools schwammen, sondern in Mehrfamilienhäusern verschwanden.
Mein Vater war ungelernter Fabrikarbeiter. Ein Stigma in der Schweiz, das sich durch jede Pore meiner Kindheit zog. Meine Mutter war körperbehindert. Ich war dick, oft ungewaschen, meistens ungekämmt – und es war mir egal. Oder: Ich tat so. Denn tief in mir war längst klar, dass ich nie dazugehören würde. Nicht zu den Hübschen, nicht zu den Beliebten.
Ich konnte mit fünf lesen. Und ich las. Alles. Vor allem Schlagzeilen. Ich stand vor dem Dorfkiosk und sog die Zeitungscover auf wie andere Kinder Glacé. Wenn in der Tagesschau von vermissten oder ermordeten Kindern die Rede war, blieb ich wie gebannt vor dem Bildschirm sitzen. Aktenzeichen XY sah ich erst heimlich – bis meine Mutter kapitulierte und mir einen Platz auf dem Sofa freiräumte.
Und dann fiel mir etwas auf.
All diese toten Mädchen. All diese vermissten Kinder. Sie waren hübsch. Blond. Zart. Niedlich. „Normschön“, wie man heute sagen würde. Und mir dämmerte: Nicht einmal für einen Kindermörder war ich gut genug. Ich taugte nicht mal als Opfer.
Das war… beruhigend. Und gleichzeitig demütigend. Sogar der grausamste Mensch der Welt hätte mich links liegen lassen.
Also zog ich los. Ich, sechs Jahre alt, durchkämmte Wälder, kroch durch Gebüsche, stromerte durch verbotene Gebiete. Ich legte es darauf an. Unter anderem rund um die Haftanstalt Witzwil, ganz in der Nähe des Campingplatzes, wo meine Familie ihre Wochenenden verbrachte. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, in Gefahr zu sein. Ich wollte herausfordern, provozieren. Und vielleicht, ganz tief drin, wollte ich auch verschwinden. Damit endlich jemand merkt, dass es mich gab.
Die Vorstellung, entführt oder ermordet zu werden, erschien mir damals nicht einmal schlimm. Sie war eine Art Gerechtigkeit. Eine Form von Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen, das niemand vermissen würde, suchte einen Beweis dafür, dass es überhaupt existierte.
Dramatis Personae
Eric mit C – Toxische Eifersucht

Geboren 1977
Eric war gleich alt wie ich. Wir waren etwa von 2017 bis 2020 ein Paar. Als ich ihn kennenlernte, lebte ich von Sozialhilfe, hatte keine sozialen Kontakte, keine Beschäftigung, keine Perspektive, keine Hoffnung. Ich betäubte mich regelmässig mit Alkohol. Mein Leben war leer. Er hatte gerade seinen Job gekündigt, ohne einen neuen in Aussicht zu haben. Die Arbeitslosenkasse hatte bereits begonnen, ihn zu zermalmen. Er hatte viel Zeit. Ich hatte viel Zeit. Und ich hasste das System. Ich wusste, dass er selbst verantwortlich war für seine Misere – aber ich hatte Mitleid. Also kümmerte ich mich um seinen Kram, damit das System ihn nicht ganz zerstörte.
Das Kennenlernen
Wir lernten uns über Twoo kennen, eine dieser armseligen Dating-Apps. Er lud mich zum Essen ein. Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit war verlockend genug, um mich auf ein spontanes Treffen bei ihm zu Hause einzulassen. Alkohol. Sex. Am nächsten Tag waren wir ein Paar. Red Flag. Ich wusste, das ist toxisch. Ich wusste, das ist nicht, was ich wollte. Aber wenn du nichts hast, nimmst du alles.
Wer er war
Eric war gross und massiv. Zu Beginn nicht dick, das kam erst mit der Zeit. Er wirkte wie ein sanftmütiges Riesenbaby. Ständig am Lachen – ein Lachen, das oft mehr mit Verlegenheit zu tun hatte als mit Freude. Er war kreativ. Malte wunderschöne Acrylbilder in seinem eigenen Stil. Er verschönerte Schuhe, Laptops, Lampenschirme und Keramikfiguren mit Glitzer, Farben, Plingpling. Er liebte elektronische Musik, rauchte Zigaretten und Gras, nahm Drogen: Amphetamine, MDMA, wer weiss, was noch alles. Später machte er eine Weiterbildung zum Altenpfleger. Und er hatte zwei Katzen, die er sehr liebte.
Die Dynamik
Sein bester Freund war ein früherer Arbeitskollege mit gleichem Lifestyle. Wenn sie zusammen waren, wurde durchgefeiert. Nach jeder dieser Nächte folgte ein Streit. Immer. Eric konfrontierte mich mit Vorwürfen wegen Dingen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Ich hatte weniger konsumiert als er, war meistens früh raus aus der Runde. Anfangs hielt ich es für normale Gedächtnislücken. Dann begann ich, mir Notizen zu machen. Und irgendwann war klar: Nichts davon stimmte. Die Vorwürfe waren wahnhaft.
Mit der Zeit wurde er immer eifersüchtiger, kontrollsüchtiger, aggressiver. Ich war nie untreu. Ich gab nie Anlass dazu. Ich hatte nicht mal Gedanken daran. Aber Eric war überzeugt. Und er machte Sex zum Machtmittel. Wenn ich keine Lust hatte, schmollte er oder eskalierte. Ich wurde weichgekocht. Ich verlor meine Libido. Ich begann zu glauben, mit mir stimme etwas nicht.
Und dann kam mein Click-Moment:
Eric hat mich dazu gebracht, in meine eigene Vergewaltigung einzuwilligen.
Ich habe Nein gesagt. Und irgendwann Ja, weil Nein zu anstrengend war. Weil Nein bedeutete: Vorwürfe, Streit, Drama. Also sagte ich Ja. Und unterschrieb damit mein eigenes Trauma.
Der psychologische Blick
Eric zeigte viele Anzeichen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Er fühlte sich nicht nur von mir, sondern auch von Arbeitgebern und Kollegen verfolgt. Seine Wahrnehmung war durchzogen von Misstrauen, Verdacht, Wahngedanken.
Er war ein Adoptivkind und litt sehr unter dieser Tatsache. Seine Adoptiveltern wurden Ziel ungerechter Vorwürfe. Die frühe Bindungsstörung, das tiefe Misstrauen gegenüber allem – es fügte sich zusammen. Möglich ist auch eine substanzinduzierte Psychose.
Ich überzeugte ihn einmal, zur Therapie zu gehen. Er ging ein Mal hin, mochte den Therapeuten nicht und ging nie wieder. Paartherapie? Ich schleifte ihn hin. Noch auf dem Weg wollte er absagen. Das Gespräch verlief gut. Danach meinte er, wir schaffen das auch allein. Natürlich.
Das Ende
Die Beziehung war längst vorbei, aber ich konnte nicht ausziehen. Sozialhilfe. Kein Geld. Keine Chance. Frauenhaus? Mutter? Beides nicht tragbar.
Dann kam im Dezember 2019 die Zusage für meine IV-Rente. Alles änderte sich. Ich fand sofort eine eigene Wohnung. Pro Infirmis finanzierte den Umzug. Ich fand einen Job. Schlechte Bezahlung, sinnlose Arbeit – aber ich arbeitete. Und ich lebte.
Ich sagte: Eric kann mein Partner bleiben, aber ich lebe mein Leben.
Ich brach Treffen ab, wenn er nicht freundlich war. Wenn er nicht klar war. Wenn er nicht zugewandt war. Das passte ihm nicht. Seine Fantasien wurden wilder. Und irgendwann war ich einfach durch.
Ich wollte ihn nicht mehr in meinem Leben.
Und diesmal habe ich das auch geschafft.
Dramatis Personae
Lea: „Ich hätte nie gedacht, dass du Gefühle hast.“

Ich beginne meine Liste der Dramatis Personae mit Lea – weil sie letzte Woche gestorben ist. Und weil sie mich seither in Gedanken verfolgt.
Weitere Figuren folgen irgendwann. Ohne Reihenfolge, ohne Plan. Nur Menschen, die mein Leben geprägt oder verbogen haben – einer nach der anderen.
Grunddaten
Geboren – Gestorben: Dezember 1973 – Februar 2025 († 51 Jahre)
Todesursache: Hirntumor.
Wenn die Seele durch den Körper spricht, aber der Kopf nicht zuhört, endet es vielleicht mit einem Hirntumor.
Ich weiss, das ist brutal vereinfacht. Aber die Psychosomatik lässt mich nicht los – vor allem nicht bei Lea.
Wohnorte:
Ihr ganzes Leben verbrachte sie in und um Biel-Bienne – eine zweisprachige Industriestadt im Schweizer Mittelland. Viel Uhrenindustrie, viel Beton, ein bisschen Charme, ein bisschen Dreck.
Beruf:
Fachangestellte Betreuung in der Altersarbeit (zweijährige Lehre)
Beziehung zur Arbeit:
Helfersyndrom deluxe. Wollte eigentlich Krankenschwester werden – aber die Noten (und vermutlich auch das Interesse) reichten nicht.
Ich hatte immer das Gefühl: Sie wollte nicht den Job, sondern das romantische Bild davon.
Die hingebungsvolle Pflegerin, die einem gut aussehenden, sanften Feuerwehrmann das Leben rettet – und sich dabei unsterblich verliebt. Happy End. (Cue Helene-Fischer-Ballade.)
Realität?
Viel harte Arbeit und Männer, die nur noch sabbern – 90 Jahre alt, dement, inkontinent.
Familie & Verwandtschaftsverhältnisse
Mutter: Lory (Schwester meiner Mutter)
Vater: Hugo (Bruder meines Vaters)
Bruder: Paddy – drei Jahre jünger als Lea
Partner: Tom – ihr erster und einziger Partner, den sie erst relativ spät kennenlernte
Lea war die eiserne Jungfrau der Familie.
Ich war die Schlampe – sie die Reine.
Nicht aus Überzeugung. Sie wollte schon, aber es ergab sich nie.
Zwei, drei intime Begegnungen vor Tom – aber nie eine Beziehung.
Kinder: Keine. (Zum Glück.)
Sie wollte immer Mutter werden, schon als Teenie. Das Universum war gnädig.
Persönlichkeit & Typ
Lieb. Jähzornig. Stur.
Ihr Gewicht definierte ihr Selbstbild. Seit der Kindheit adipös.
Sie war immer beschäftigt mit Diäten, Kalorien, Vergleichen.
Sie wollte gefallen – um jeden Preis.
Starke Meinungen, Streit, Konfrontation? Fremdwörter.
Harmonie um jeden Preis – auch wenn sie sich selbst dafür komplett auslöschte.
Mainstream pur.
Mit 15 kleidete sie sich wie Mitte 40. Hörte Schlager und Volksmusik.
Wahrscheinlich hat sie in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gelesen als den BLICK.
Keine echten Interessen. Keine Neugier. Keine Leidenschaft.
Keine Reibung.
Aber wehe, sie explodierte – dann richtig.
Psychisches Profil (Pschikologie)
Oder: Warum sie so verkorkst war
Klassische Opferpersönlichkeit.
Sie passte sich an. Liess alles geschehen. Sagte nie nein.
Tolerierte das Unerträgliche.
Extreme Konfliktvermeidung.
Sie hätte lieber geschwiegen, als eine unbequeme Wahrheit anzuerkennen – selbst wenn jemand anderes darunter litt.
Feigheit als Überlebensstrategie.
Sie sah, dass Dinge falsch liefen. Und schaute weg.
Sie wusste, dass etwas nicht stimmte – und tat so, als wär alles okay.
Lebenslange Selbsttäuschung.
Egal wie schlimm es war – sie spielte Harmonie.
Die Welt konnte brennen, und Lea hätte Atemlos durch die Nacht drübergelegt.
Vaterkomplexe en masse.
Verliebt in ihren Onkel Ronald –
obwohl (oder gerade weil?) er sie sexuell belästigte.
Und warum?
Na klar: die Eltern.
Hugo: Der Familien-Tyrann schlechthin.
Ein – sorry – Vollwichser.
Dumm wie Brot, aber mit starken Meinungen.
Immer gegen Ausländer.
Sexbesessen. Grenzenlos. Vor allem betrunken.
Laut. Impulsiv. Einschüchternd. Ein Diktator ohne Reich.
Lory: Die, die aufräumen musste.
Sie hat alles entschuldigt, was Hugo angerichtet hat.
Sie war Schadensbegrenzung in Menschengestalt.
Das Ergebnis?
Lea hat das System übernommen.
Sie hat es nicht bekämpft – sie hat sich einen neuen Hugo gesucht: Tom.
Ihr selbstzerstörerisches Verhalten kam nicht aus Lust –
sondern weil sie keine andere Beziehungskultur kannte.
Unsere Beziehung
Als Kind habe ich sie vergöttert.
Ich wollte sein wie sie.
Mit ihr durch Wälder rennen, Superheldin spielen – das war das Grösste für mich.
Aber ich hatte immer das Gefühl: Sie war nie so begeistert von mir wie ich von ihr.
Sie hing lieber bei den Erwachsenen rum.
Als Teenager wurde der Unterschied klar:
Ich rebellierte, las Bücher, kämpfte für Gerechtigkeit.
Sie wurde alt. Innerlich. Gab sich hin. Hörte Schlager, war brav, still, angepasst.
Ihr Rückzug war endgültig.
Je mehr ich sie brauchte, desto weiter zog sie sich zurück.
Schlüsselmomente – die guten, die bitteren, die absurden
Was schön war:
Unsere Heldinnen-Abenteuer im Wald.
Ich liebte es, mit ihr in Fantasiewelten abzutauchen.
Unsere kleinen Reisen als Teenager – nur wir zwei. Da war sie nahbar. Da mochte ich sie.
Was mich bis heute wütend macht:
Ihr Schweigen, als ich sie am meisten brauchte.
Ihr Schweigen über den Missbrauch.
Fazit
Wenn ich sie in einem Satz beschreiben müsste:
„Ein Mensch, der alles geschluckt hat – bis es ihn von innen aufgefressen hat.“
Was ich von ihr gelernt habe?
Dass Schweigen genauso grausam sein kann wie Worte.
Was ich ihr heute sagen würde, wenn ich könnte?
„Ich wünschte, du hättest den Mut gefunden, hinzusehen.“
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