Bye bye Genossenschaft, Stiftung ich komme
Im Dezember 2019 erhielt ich endlich die lang ersehnte Nachricht: Ich bekam eine Teilrente der IV zugesprochen. Nach einer langen Zeit der Arbeitslosigkeit war das ein Wendepunkt. Denn Zeit ist eine Droge – zu viel davon kann tödlich sein. Also wusste ich, dass ich so schnell wie möglich eine Stelle auf dem zweiten Arbeitsmarkt finden musste. Mein Weg führte mich zum grössten Arbeitgeber für Invalidenrentner im Kanton Solothurn: die Genossenschaft.
Der Anfang: Eine neue Chance nach langer Arbeitslosigkeit
Was ich dort vorfand, überraschte mich – in vielerlei Hinsicht. Kein Anschreiben, kein Lebenslauf, keine Diplome – all das spielte keine Rolle. Das einzige Dokument, das Gewicht hatte, war die Verfügung der Invalidenversicherung. Beim ersten Gespräch fragte man kurz, ob meine Rente auf psychische, kognitive oder körperliche Beeinträchtigungen zurückzuführen sei, aber niemand erkundigte sich nach spezifischen Bedürfnissen. Nur drei Tage später fing ich in der Montage an. Keine weiteren Gespräche, keine Einführung oder Vorstellungsrunde: Ich wurde einfach an einen Tisch gesetzt und mir wurde die anstehende Aufgabe gezeigt. Uhrenarmbänder in Seidenpapier einwickeln? Muttern auf Schrauben schrauben? So viel zu den Herausforderungen.
Balsam für die Seele – zumindest anfangs
Trotz der Monotonie war ich zunächst einfach nur dankbar. Endlich hatte ich Struktur in meinem Alltag und endlich wieder Menschen um mich herum. Der Stundenlohn von 3 Franken spielte keine Rolle, dank Invalidenrente und Ergänzungsleistungen war ich finanziell abgesichert. Die Arbeit und der Kontakt zu meinen Kollegen waren Balsam für meine sozial ausgehungerte Seele. Mein Selbstwertgefühl stabilisierte sich, meine Ängste wurden beherrschbar.
Doch die Routine wurde schnell ermüdend. Bald fühlte ich mich unterfordert und suchte mit Unterstützung meiner Therapeutin das Gespräch mit dem Geschäftsführer. Mein Anliegen war unkompliziert: Ich wollte Aufgaben, die zu meiner Ausbildung und Berufserfahrung passten. So landete ich im Administrationsteam – meiner Komfortzone: der Arbeit am Computer.
Zwischen Inklusions-Augenwischerei und Systemanalyse
In meinem neuen Team blühte ich auf. Neben meiner Rolle als Ansprechpartner bei PC-Problemen wurde ich für viele Kollegen zur Brücke zwischen den Mitarbeitenden mit Behinderung und dem „normalen“ Personal. Doch hier zeigte sich das wahre Gesicht der Genossenschaft. Von der vielgepriesenen Inklusion war nichts zu sehen. Es gab zwei Welten: Mitarbeitende mit Behinderung, die 2-8 Franken pro Stunde verdienen, und die „Chefs“ mit einem regelmässigen Monatslohn. Integration? Nirgendwo in Sicht.
Als ich begann, das System zu analysieren, wurde mir das Geschäftsmodell der Genossenschaft klar. Ein einfaches Beispiel: Ich verdiente 3 Franken pro Stunde bei 20 Arbeitsstunden pro Woche, was 250 Franken pro Monat ausmacht. Gleichzeitig bekommt die Genossenschaft vom Kanton 1500 Franken für meine Anstellung. Das ist ein ordentlicher Gewinn von 1250 Franken – pro Person und Monat. Dieses Muster wiederholte sich in der gesamten Organisation, verschleiert durch die Illusion, Menschen mit Behinderung zu unterstützen und zu integrieren. In Wirklichkeit gab es kaum bis gar keine Unterstützung oder Entwicklung. Stattdessen wurde das System ausgenutzt, um Mitarbeitende mit Behinderungen für 25 Franken pro Stunde an andere Unternehmen zu „vermieten“. Natürlich floss dieses Geld direkt in die Taschen der Genossenschaft und nicht in die der Behinderten.
Widerstand und Ernüchterung
Meine wachsende Kritik führte zu zahlreichen Diskussionen, sogar mit dem CEO. Ich träumte davon, so etwas wie eine Gewerkschaft zu gründen, um die Bedingungen für Mitarbeitende mit Behinderungen zu verbessern und mich für die Ziele der Behindertenrechts-Konvention (BRK) einzusetzen. Im Jahr 2024 arbeitete ich unermüdlich auf dieses Ziel hin, aber am Ende fehlte mir die Unterstützung, um genügend Menschen aktiv zu mobilisieren. Es war entmutigend.
Ein Neuanfang bei der Stiftung
Im Herbst 2024 habe ich beschlossen, die Genossenschaft zu verlassen. Ab April 2025 werde ich bei der Stiftung in Solothurn arbeiten, einer Organisation, die sich auf die Unterstützung von Menschen mit psychischen Behinderungen spezialisiert hat. Diese neue Rolle verspricht ein Umfeld, das weniger von Gewinnmotiven getrieben ist. Auch wenn die IV mir eine 50%ige Erwerbsfähigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt attestiert, weiss ich, dass eine „normale“ Arbeit für mich keine Option ist. Das Risiko meine Rente zu verlieren ist zu gross und wegen meiner Schulden wäre das selbst dann ein finanzielles Fiasko, wenn das nicht passieren würde. Mein Erwerbseinkommen wird nach wie vor gepfändet.
Fazit: Die Illusion der Inklusion
Die Genossenschaft war für mich ein wichtiger Schritt, aber sie ist Sinnbild eines Systems, das sich hinter Schlagworten wie „Integration“ und „Inklusion“ verbirgt. Die Realität sieht oft ganz anders aus: Menschen mit Behinderung werden ökonomisch ausgebeutet und nur minimal unterstützt. Ich hoffe, dass mein Wechsel zur Stiftung nicht nur einen beruflichen, sondern auch einen persönlichen Neuanfang markiert – in einem Umfeld, in dem Menschlichkeit über Scheinheiligkeit steht.