Pfändung oder Bulgarien? Eine mentale Flucht

Letzten Dienstag hatte ich einen Termin beim Betreibungsamt – eine Pfändungsvollstreckung. In den letzten zwanzig Jahren waren solche Termine ein wiederkehrender Teil meines Lebens. Dies ist nicht meine erste Betreibung und wird auch nicht meine letzte sein. Als Empfänger einer Invalidenrente bin ich zumindest teilweise geschützt: Meine Invalidenrente und EL können nicht gepfändet werden. Mein Lohn hingegen schon.

Das führt zu einer absurden Situation: Jeder Franken den ich verdiene, wird gepfändet. Gleichzeitig wird dieses Einkommen bei der Berechnung meiner Ergänzungsleistungen als Verdienst angerechnet. Je mehr ich verdiene, desto weniger bleibt mir zum Leben. Dieses Paradoxon veranschaulicht einen systemischen Fehler in der Struktur der finanziellen Unterstützung für Menschen mit Behinderungen. Es ist frustrierend, da es sich oft wie eine Bestrafung für den Versuch anfühlt, die eigene Situation zu verbessern. Trotzdem bin ich dankbar, diesen Schutz als Invalidenrentnerin zu haben. Mir bleibt fast doppelt so viel Geld zum Leben wie normalen Schweizern, deren Einkommen gepfändet wird.

Fast alle meine Ängste sind Existenzängste. Ich kenne Armut in einem Ausmass, dass man in der reichen Schweiz manchmal hungern muss, weil das Konto leer ist und das nächste Geld erst in einer Woche kommt. Ein Brief vom Betreibungsamt genügt, um diese Angst auszulösen. Eine Vorladung kann mich in regelrechte Panik versetzen. Der Pfändungstermin letzten Dienstag war schon lange vor dem eigentlichen Tag in meinen Gedanken. Am Tag zuvor lud ich die Airbnb- und Flixbus-Apps herunter und begann, meine Flucht nach Bulgarien oder Rumänien zu planen. Sofia klang verlockend. Wenn der Termin schlecht gelaufen wäre, wäre ich vielleicht schon in Varna – oder zumindest auf dem Weg dorthin.

Am Montag hatte ich eine Sitzung mit meiner Therapeutin. Ich war wütend und trotzig – eine Seite von mir, die sie wahrscheinlich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich konnte ihr nicht vermitteln, warum mich der bevorstehende Termin so tief berührte. Meine psychische Krankheit hat mich in die Armut getrieben, und ein Grossteil meiner Schulden ist systembedingt. Steuern, die geschätzt wurden, weil ich zu krank war, um eine Steuererklärung abzugeben, sind nur ein Beispiel. Jeder einzelne Franken meines Einkommens in der Genossenschaft der letzten fünf Jahre, wurde durch irgendeine beschissene Behörde im Kanton Bern gepfändet. AHV-Beiträge, Einkommenssteuer… Und das für Jahre die ich mehrheitlich in der Klinik oder schwer depressiv auf dem Sofa verbracht habe. Es sind erfundene Schulden und entsprechend wenig Lust habe ich, die Rechnung zu zahlen.

Dann kam der Pfändungstermin. Er verlief genau wie erwartet – nach zwanzig Jahren bin ich ein alter Hase am Schalter der Schweizer Betreibungsämter. Mindestens einmal im Jahr stehe ich am Schalter. Eigentlich sollte mich das nun aber wirklich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Aber so ist das mit meinen Ängsten: Ich weiss, dass sie irrational sind, aber ich habe auch gelernt: Nimm nie etwas als selbstverständlich, wenn es um eine Behörde geht. Sie beugen die Regeln schneller, als du fragen kannst: „Wie bitte?“. Ich glaube, viele können diese Erfahrung nachvollziehen, vor allem diejenigen, die mit bürokratischen Systemen konfrontiert waren, die scheinbar davon leben, unnötige Hürden zu schaffen. Die Angst vor diesen Terminen kann überwältigend sein.

Der Beamte war freundlich, wie sie es im Kanton Solothurn fast immer sind. Kein unnötiges passiv-aggressives Bürokraten-Verhör, wie ich es im Kanton Bern erlebt hatte. Der Vollzugsbeamte verlangte nur die notwendigsten Dokumente und zwang mich nicht, jede Aussage mit Papierkram zu belegen. Er erklärte mir sogar den aktuellen Stand der Pfändung: Noch 167 Jahre wie das letzte und meine Schulden sind bezahlt! Keine Ahnung wie weit das Licht am Ende des Schuldentunnels wirklich noch entfernt ist, aber es spielt auch keine Rolle. Ich werde rein biologisch garantiert nicht alt genug, um es zu erleben.

Trotz der aufflackernden Wut gegenüber dieser beschissenen Situation, war ich wie immer ruhig, freundlich, gelassen, vorbereitet, kooperativ und vertrauenswürdig. Ich glaube, niemand konnte auch nur einen Hauch meiner Nervosität spüren. Nach dem Termin schwebte ich erleichtert die Treppen des Gebäudes hinunter. Plötzlich erschienen mir mein Verhalten und meine Gefühle der letzten Tage fast lächerlich. Ich spürte nun doch etwas Erleichterung, dass ich zum Glück nicht spontan genug bin um einfach in einen Flixbus nach Bulgarien zu steigen. Sonst würde ich jetzt wahrscheinlich irgendwo in Sofia sitzen und mich fragen, wie’s denn nun weiter geht.

Immerhin scheine ich mittlerweile gelernt zu haben, wie man sich im Umgang mit Behörden zu verhalten hat, um möglichst in der breiten Masse der schikanierten unterzugehen. Ich versuche in der Regel, nicht den einzelnen Systemsoldaten zum Ziel meines Hasses zu machen. Es bringt nichts. Beamte sind auch nur Menschen: Bist du nett zu ihnen, sind sie nett zu dir – meistens. Also spiele ich das Spiel: Tun als wäre man ein Unschuldslahm, dankbar für die kompetente und freundliche Unterstützung durch den netten Beamten und gleichzeitig immer top informiert über alle rechtlichen Aspekte. Ich lass mich von System nicht mehr ficken.

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Zia

I’m Zia, a Swiss autodidact and dreamer, navigating life with a combined personality disorder. I thrive on understanding and mastering technology—there’s no software I can’t intuitively figure out. While I’m not an academic, I’m deeply educated in life and learning, driven by curiosity and creativity. A misanthrope with an idealist’s heart, I share my reflections on resilience, growth, and finding meaning amidst life’s chaos.

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